Das Herz schlägt zweistimmig
Der Hessischen Spielgemeinschaft zum Neunzigsten
Wäre die Hessische Spielgemeinschaft nur eine gewöhnliche Truppe von Amateurschauspielern, hätte sie 90 Jahre ihres Bestehens kaum geschafft. Und wäre sie nur ein Traditionsverein zur Bewahrung des Darmstädter Dialekts, stünden die Chancen noch schlechter.
Aber heute kann man einer Vereinigung zum Geburtstag gratulieren, deren Herz zweistimmig schlägt. Ein Ton ist die Freude am Theaterspielen, an der Lust, den anderen etwas vorzumachen und dabei auch etwas über sich selbst zu erfahren, das Wunder, über die Kunst der Verstellung zu einer tieferen Wahrheit zu gelangen, an der Darstellung und Publikum gemeinsam teilhaben. Dazu kommt als zweiter Ton die Pflege der Mundart – nicht um der Tradition willen, sondern weil sie der direkteste Weg zum unverstellten Ausdruck ist.
Die Freude am Spielen und der heimatlich gefärbte Tonfall – bei der Hessischen Spielgemeinschaft ist eines nicht ohne das andere zu haben. Dem Publikum hat dieses Ensemble, das sich auf wundersame Weise immer wieder erneuert, die nachwirkende Erinnerung an große Aufführungen beschert. Und mit dem Mut, neue Blicke aufs vermeintlich Vertraute zu werfen, hat die Spielgemeinschaft ihre Zukunftsfähigkeit bewiesen. Wie die nächsten 90 Jahre aussehen, weiß natürlich niemand. Ja, man würde nicht einmal mehr ausschließen wollen, dass die Rolle des Datterich eines Tages von einer Frau übernommen wird. Aber auch dann wird es mit jenem Herz geschehen, das zweistimmig zu schlagen versteht.
Von Johannes Breckner